FREI WÜEST EXPERThat den REHVA COVID-19 Guidance 4.1 im Auftrag von DIE PLANER – SWKI in die deutsche Sprache übersetzt. Er ist als TRSWKI VA104-01 am 15.11.2021 im PDF-Format erschienen. Behandelt wird der Betrieb von HLK- und anderen gebäudetechnischen Analgen zur Vermeidung der COVID-19 Erkrankung durch das Coronavirus (SARS-CoV-2).
Der deutsche Fachverband Gebäude-Klima (FGK) hat einen neuen Status-Report Nr. 52 veröffentlicht. Darin werden Anforderungen an die Lüftung und die Luftreinigung zur Reduktion des SARS-CoV-2 Infektionsrisikos über den Luftweg festgelegt.
Damit das Infektionsrisiko reduziert werden kann, wird für die Festlegung der erforderlichen Aussenluftvolumenströme neu ein Aktivitätsfaktor eingeführt. Dieser erhöht den erforderlichen personenbezogenen Aussenluftvolumenstrom in Abhängigkeit der Aktivität und der Nutzung. Ausgangsbasis für die Festlegung des erforderlichen Aussenluftvolumenstrom ist die höchste Kategorie für die Raumluftqualität (Kategorie I).
Den deutschen Ansatz, wonach die Personenbelegung in mechanisch belüfteten Räumen soweit reduziert wird, bis ein nach Aktivität festgelegter erhöhter personenbezogener Aussenluftvolumenstrom zur Verfügung steht, erachtet FREI WÜEST EXPERT als prüfenswert für die Schweiz.
Im Status-Report wird Bezug auf die europäische Norm EN 16798-1:2019 genommen, welche in der Schweiz als SN EN 16798-1:2019 übernommen wurde. Der nationale Schweizer Anhang zur SN EN 16798-1:2019 wird derzeit erarbeitet. Der schweizerische Ingenieur- und Architektenverein (SIA) hat FREI WÜEST EXPERT mit der Ausarbeitung des nationalen Anhangs beauftragt.
Aktuell wird darüber debattiert, ob 1.83 m (Six-Feet) Abstand ausreichend sind und ob 15 Minuten Expositionsdauer eventuell zu lang ist. Das amerikanische Centers for Disease Control and Prevention (CDC) überarbeitet derzeit die Definition von «Close Contact».
Die Schweizer Abstandsregel von 1.5m basiert unter anderem auf früheren Arbeiten von Wells (1934) zu Flüssigkeitströpfchen, welche von Xie et al. 2007 im Indoor Air Journal einer Review unterzogen wurde.
Mittlerweile besteht Evidenz, dass SARS-CoV-2 sehr häufig durch Aerosole übertragen wird. Daher sollte die Schweizer Abstandsregel von 1.5m kritisch überprüft werden. Aerosole können unter bestimmten Randbedingungen während langer Zeit in der Umgebungsluft schwebend verbleiben.
Ein weiterer kritischer Parameter für die Aerosol-Übertragung von SARS-CoV-2 ist die Expositionsdauer. Bisher wurde postuliert, dass die kritische Dauer 15 Minuten beträgt. Es besteht aber Grund zur Annahme, dass die Expositionsdauer von 15 Minuten kumulativ innerhalb von 24 Stunden zu betrachten ist. Es reichen also bereits 3 mal 5 Minuten über 24 Stunden aus.
Superspreader-Ereignisse wie beim Skagit Valley Chor (USA) wurden von mehreren Autoren in akribischer Detektivarbeit dazu benützt, um wertvolle Erkenntnisse zur Aerosol-Übertragung zu gewinnen. Weitere Autoren zeigen die Art und Weise, wie die 1.83 m (Six-feet) Abstandsregel von der Luftwechselrate, von der Grösse des Raums, von der Atemrate und der Atmungsaktivität der Benutzer abhängt. Die Infektiosität der Atemaerosole – ein krankheitsspezifischer Parameter – wurde anhand der verfügbaren Daten abgeschätzt. Die angenommenen Luftwechselraten von 8 ACH bei mechanischer Lüftung für eine vertretbare Expositionsdauer sind sehr hoch. Wie immer sind die Ergebnisse aufgrund der Unsicherheiten der Eingangsparameter mit erheblichen Unsicherheitsintervallen behaftet.
Quellen:
Xie X. et al. How far droplets can move in indoor environments – revisiting the Wells evaporation-falling curve. Indoor Air. 2007; 17: p.211-225; doi:10.1111/j.1600-0668.2006.00469.x
Miller SL, Nazaroff WW, Jimenez JL, et al. Transmission of SARS-CoV-2 by inhalation of respiratory aerosol in the Skagit Valley Chorale superspreading event. Indoor Air. 2020; 00:1–10. https://doi.org/10.1111/ina.12751
Bazant M.Z, Bush J.W.M Beyond Six Feet: A Guideline to Limit Indoor Airborne Transmission of COVID-19 medRxiv, https://doi.org/10.1101/2020.08.26.20182824 (no peer review yet)
Kommentar von FREI WÜEST EXPERT Die vorliegenden Arbeiten und die amerikanische Debatte lassen den Schluss zu, dass die Schweizer Abstandsregel von 1.5 m unter Berücksichtigung der Aerosol-Eigenschaften kritisch zu hinterfragen ist. Die Expositionsdauer von 15 Minuten muss hinsichtlich Einzelereignis resp. kumulativer Ereignisse überprüft werden. Zusammen mit der Frage der Wirksamkeit von Nasen-Mund-Masken und dem Aufenthalt in geschlossenen, meist unterbelüfteten Räumen besteht ansonsten die Gefahr, dass sich die Nutzer in falscher Sicherheit wiegen und das Risiko einer SARS-CoV-2 Übertragung stark unterschätzen.
Das renommierte Indoor Air Journal hat ein Editorial von niederländischen Forschern zur Publikation akzeptiert (DOI: 10.1111/ina.12744). Darin berichten Cees van Rijn et al. von der Amsterdam University über die Reduktion der Aerosol-Übertragung von SARS-CoV-2 in Spital-Liftkabinen. Experimentell untersucht wurden zwei Liftkabinen-Grössen. Verwendet wurden Glycerol/Ethanol Aerosole mit einem Durchmesser von 5 µm. Die drei Betriebsmodi geöffnete Türen, im Betrieb und geschlossene Türen zeigten, wie lange Aerosole in Liftkabinen verbleiben. Die Luftwechselrate betrug ACH=10. Die Autoren weisen darauf hin, dass die Belüftung von Spital-Liftkabinen in den Niederlanden eine Nachlaufzeit von 1-2 Minuten hat. Die Kabinenluft wird üblicherweise nach oben in den Liftschacht ausgeblasen.
Die Autoren ziehen aus den Ergebnissen folgende Schlüsse:
Aerosole verbleiben in Liftkabinen über lange Zeit (selbst bei 10-fachem Luftwechsel pro Stunde).
Die Reduktion der Aerosol-Last um den Faktor 100 erfolgt bei ACH=10 innerhalb von
24-30 Minuten bei geschlossenen Türen 12-18 Minuten in Betrieb. 3-5 Minuten bei offenen Türen
Spital-Liftkabinen werden gemäss Normen mit ACH= 6 bis 20 belüftet.
Liftkabinen-Türen sollen im Ruhezustand geöffnet bleiben.
Die Belüftung von Liftkabinen soll vom Liftschacht her erfolgen, möglichst mit einem HEPA-Filter.
Verwendung von Medizinischen Nasen-Mund-Masken (N95/N99) wird dringend empfohlen.
Kommentar von FREI WÜEST EXPERT Die Ergebnisse der niederländischen Studie verdeutlichen die Bedeutung der Belüftung von Liftkabinen und Liftschächten. Diese wird durch SARS-CoV-2 noch verstärkt. Die niederländischen Untersuchungen erfolgten bei ACH=10. Bei kleineren Luftwechselraten erhöht sich die Verweilzeit markant. Die Belüftung von Liftschächten ist in der Schweiz in keiner SIA-Publikation geregelt. Die Erarbeitung eines SIA-Merkblatts 20xy Lüftung von Aufzugsanlagen scheiterte bisher – trotz freigegebenem Projektvorschlag – an der fehlenden (BFE-)Finanzierung.
Dirk Müller und sein Team von der RWTH Aachen haben einen Ansatz entwickelt, der ein relatives Infektionsrisiko durch einen Virustransport über Aerosole in unterschiedlichen Räumen und Nutzungen gegenüber einer Wohnung als Referenzumgebung berechnet.
Folgende Raumtypen wurden in der Studie untersucht: Einfamilienhaus, Klassenraum, Mehrpersonenbüro, Großraumbüro, Hörsaal, Messehalle, Fahrzeug und Flugzeug.
Diesen wichtigen Beitrag zur dringenden Versachlichung der Diskussion um SARS-CoV-2und Lüftung finden Sie hier: